Jean Merlin, der König der Seilzauberei, ist verstorben. Jeder seriöse Zauberkünstler kennt ihn – er war ein Pionier, der die Seilzauberei auf ein neues Niveau gehoben hat. Seine Arbeit hat die berühmte Seilroutine von Tabary maßgeblich beeinflusst, und auch ich verbinde viele persönliche Erinnerungen mit ihm.
Ich habe ihn erstmals bei einem Seminar in Vorarlberg kennengelernt. Dort zeigte er seine Seilkunststücke und seine Luftballonmodelliernummer. Ich kaufte damals seine mehrsprachig verfassten Unterlagen zur Seilzauberei – sie gehören bis heute zu den besten Lehrmaterialien in diesem Bereich.
Anlässlich des Kongresses in Mayrhofen 2004 holte ich ihn nochmals nach Österreich. Er trat in der Gala auf und hielt ein Seminar. Seine Versionen von Klassikern wie der Seilroutine und Paper Ball over the Head sind unvergessen.
Richtig kennengelernt habe ich ihn allerdings erst 2005, als ich mit Markus Zink und Werner Klaus eine „Bildungsreise“ nach Paris unternahm. Ohne große Erwartungen schrieb ich Jean, was in Paris magisch los sei. Er fragte nur, in welchem Hotel wir übernachten würden. Als wir ankamen, wartete ein großes Kuvert auf uns – der Inhalt:
- 3 Tickets für die Arturo Brachetti Show im Mokador Theater
- 3 Tickets für Avner the Eccentric und seine Soloshow
- 3 Tickets für Slava’s Snowshow
- sowie eine persönliche Einladung zum Abendessen bei ihm zu Hause.
Was für eine Überraschung.
Der Abend bei ihm zu Hause war legendär. Mit dem Taxi fuhren wir in einen Vorort, wo er in einem Reihenhaus wohnte. Die Garage war vollgestopft mit Requisitenschränken – penibel geordnet. In der Küche: eine kuriose Sammlung von Flaschenöffnern. An den Wänden: eingerahmte Menükarten vergangener Dinnerabende, stets mit Gästelisten versehen. Man sah dort das Who’s Who der französischen Kunst- und internationalen Zauberszene – von Dai Vernon über Channing Pollack bis Paul Daniels. Nenne mir einen Namen, ich wette, er war bei Jean zu Gast.


Der Tisch war festlich gedeckt, auf jedem Platz lag eine gedruckte Speisekarte:
For Hanno and his friends Markus and Werner
Darunter ein dreigängiges Menü mit Aperitif – was für ein Ambiente!
Jean wuselte in der Küche herum, und wir genossen das Essen. Gegen 22:00 Uhr entschuldigte er sich plötzlich – er habe noch einen Auftritt in einem Varieté im Montmartre-Viertel. „Only 20 minutes“, meinte er, und lud uns kurzerhand ein, mitzukommen.
Mit irrwitzigem Tempo fuhren wir in einem winzigen Auto Richtung Innenstadt. Jean war bereits fertig kostümiert. Nach 40 Minuten parkte er am Straßenrand und sprang heraus – der Auftritt begann in fünf Minuten! Wir hetzten zum Bühneneingang, wo der Direktor des Varietés schon ungeduldig wartete. „Unmöglich“, meinte er, „das Haus ist ausverkauft, niemand darf mehr rein.“ Jean entschuldigte sich, wir drei trotteten zurück zum Auto, um ein Abschleppen zu verhindern.
20 Minuten später kam Jean zurück – und wir fuhren wieder zu ihm nach Hause, wo wir etwa 40 Minuten später ankamen. Es gab Dessert.
Jean war es sichtlich unangenehm, dass wir nicht ins Varieté durften. „Do you have any wish in compensation?“ fragte er. Markus Zink meinte frech: „Ein Privatseminar wäre doch eine schöne Sache.“
Es war inzwischen 01:30 Uhr.


Jean verschwand kurz und kam voll adjustiert zurück – er baute im Wohnzimmer professionell seine Requisiten auf. Mit Musikuntermalung startete er sein Seminar. Eine skurrile Szene: Wir saßen zu dritt auf dem Sofa, mitten in der Nacht, und Jean Merlin zauberte für uns.
An dieser Stelle schlief Werner Klaus zum ersten Mal ein – er war ja Requisitenbauer, kein Zauberer, und hatte den ganzen Tag schon genug Magie gesehen. Jean führte eine Kartenwanderung vor, für die er zwei Zuschauer brauchte. Markus und ich kamen „auf die Bühne“, während Werner schnarchend auf dem Sofa lag. Es war 03:00 Uhr morgens.
Wir verabschiedeten uns herzlich.
Es war wohl einer der skurrilsten, schönsten Momente meines Zauberlebens.
Jean, wenn du jetzt aus dem Zauberhimmel herunterschaust – ich bin sicher, du schmunzelst.
Du warst einer der liebenswertesten und herzlichsten Menschen, die ich je kennenlernen durfte.
Wir haben uns später noch bei verschiedenen Kongressen wiedergesehen. Beim letzten Mal, in Abano, gabst du mir die Erlaubnis, Inhalte aus deinen Büchern für den Aladin zu übersetzen und zu veröffentlichen.
Jetzt bist du nicht mehr unter uns.
Aber deine Geschichten, deine Ideen und deine liebenswerte Persönlichkeit werden immer bei uns bleiben.
Danke, lieber Jean Merlin.
Hanno